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EuGH verpflichtet Versicherung zu Unisex-Tarifen

Versicherungen müssen geschlechtsneutrale Unisex-Tarife anbieten. Gesetzliche Regelungen, welche eine unterschiedliche Tarifierung nach Geschlecht zulassen, sind nach Ansicht des EuGH europarechtswidrig (Urt. v. 01.03.2011 – C 236/09 -).

Die europäische Dienstleistungsrichtlinie aus dem Jahre 2004 untersagt grundsätzlich die Berücksichtigung des Geschlechts als Kriterium für die Bemessung von Versicherungsprämien. Die europäische Kommission war sich sehr wohl bewusst, dass in der Versicherungswirtschaft aufgrund statistischer Risikobewertungen häufig Prämienabstufungen nach dem Geschlecht verwandt wurden. Deshalb erlaubte die Dienstleistungsrichtlinie der Versicherungswirtschaft einen Übergangszeitraum bis zum 21.12.2007, um etwaig diskriminierende Prämien und Leistungsabstufungen abzubauen.

Viele Europäische Länder erließen daraufhin eine gesetzliche Regelung, wonach eine proportionale Unterscheidung aufgrund des Geschlechtes bei der Festlegung der Versicherungsprämien und –leistungen gemacht werden darf, wenn die Berücksichtigung des Geschlechts „bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist“.

Die Anwendung geschlechtsspezifischer, versicherungsmathematischer Faktoren im Bereich des Versicherungswesens ist weiterhin weit verbreitet – insbesondere in den Sparten Autoversicherung, private Krankenversicherung und Lebensversicherung. Für Autoversicherungen zahlen Frauen geringere Prämien, da sie statistisch gesehen seltener Unfälle verursachen. In der privaten Krankenversicherung müssen Frauen hingegen aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung höhere Beiträge akzeptieren. Auf das Todesfallrisiko in der Lebensversicherung zahlen Männer wiederum bislang höhere Prämien, da für sie die Wahrscheinlichkeit eines früheren Ablebens größer als bei Frauen ist.

Ein belgischer Verbraucherverband griff die gesetzliche Regelung, welche Risikoabstufungen nach dem Geschlecht in bestimmten Fällen zuließ, als diskriminierend an – mit Erfolg.

Der Europäische Gerichtshof betont, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung von Frauen und Männern ein grundlegendes Prinzip der Europäischen Union ist. Die Dienstleistungsrichtlinie aus dem Jahre 2004 habe ausdrücklich klargestellt und verlangt, dass geschlechtsspezifische Unterscheidungen bei der Prämienfestsetzung nicht länger mit diesem Grundsatz vereinbar sind. Der Versicherungswirtschaft sei bis Ende 2007 ein hinreichender Zeitraum gegeben worden, um Übergangsregelungen zu schaffen. Weitere Ausnahmeregelungen seien mit dem verfolgten Ziel der Gleichbehandlung von Mann und Frau nicht zu vereinbaren. Vielmehr sei zu besorgen, wenn das Gesetz weiterhin Ausnahmen zuließe, dass der verfolgte Zweck der Gleichbehandlung auf Dauer vereitelt werde. Dann drohe nämlich eine „unbefristete“ Aufrechterhaltung diskriminierend festgesetzter Prämien. Gegenläufige nationale Ausnahmevorschriften seien daher als ungültig anzusehen – und zwar ab dem 21.12.2012.

Obgleich das Verfahren sich lediglich auf eine belgische Vorschrift bezog, gelten die gleichen Überlegungen auch für die bundesdeutsche Ausnahmevorschrift des § 20 Abs. 2 S. 1 AGG. Auch diese Vorschrift ist ab dem 21.12.2012 als unwirksam anzusehen.

Die Versicherungswirtschaft kritisiert das Luxemburger Urteil als politisch fragwürdig und ökonomisch unklug. Das System risikogerechter Tarife werde auf den Kopf gestellt. Der Europäische Gerichtshof griffe zu Unrecht in die Vertragsfreiheit der Versicherer ein. Dies ohne Not, da das Grundrecht auf Gleichbehandlung als Schutz gegen Willkür zu verstehen sei. Die Versicherer hätten jedoch auch in der Vergangenheit keine willkürlichen Prämien erhoben, sondern risikogerechte. Die Versicherungswirtschaft kündigt an, dass sich die Prämien künftig – aufgrund des Luxemburger Richterspruches – für die Versicherungsnehmer und -nehmerinnen erhöhen würden.

Von Seiten der Verbraucherverbände wird das Luxemburger Urteil begrüßt. Es stelle verbindlich klar, dass auch private Versicherungen lediglich geschlechtsneutrale Versicherungsprämien erheben und geschlechtsneutrale Versicherungsleistungen anbieten dürfen. Der Diskriminierung der Geschlechter werde Einhalt geboten. Gesellschaftspolitische Vorgaben an die gesetzliche und private Versicherung würden langsam angeglichen. So sei es bereits in der Vergangenheit nicht einsehbar gewesen, warum die Fortpflanzungskosten der Schwangerschaft allein den Frauen und nicht den Männern auferlegt wurden und dass das statistisch gesehene bessere Ernährungs- und Gesundheitsverhalten der Frauen, welches sich in der höheren Lebenserwartung widerspiegele, nicht durch risikogerechte Prämien belohnt wurde.

Rechtlich spannend zu beurteilen wird die Frage sein, ob – wenn die gesetzlichen Ausnahmevorschriften im Jahre 2012 wegfallen – die betroffenen Versicherungsnehmerinnen und Versicherungsnehmer einen gesetzlichen Anspruch auf Anpassung ihrer Versicherungsverträge bzw. –prämien haben.

Münster, 10.03.2011

Burkard Lensing, LL.M., Rechtsanwalt
Fachanwalt für Versicherungsrecht