Europarecht

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Europarecht
Urteil des Europäischen Gerichtshofes zur Verpflichtung von Behörden rechtskräftige Verwaltungsakte auf Antrag wieder aufzuheben

 

In der Rechtssache Kühne & Heitz NV gegen eine niederländische Zollbehörde hat der Europäische Gerichtshof am 13.01.2004 Rechtssache C-453/00 (Kühne & Heitz NV) ein bemerkenswertes Urteil gefällt. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten (hier Zollbehörde) unter bestimmten Umständen verpflichtet sein können, auch rechtskräftige und durch gerichtliches Urteil bestätigte Verwaltungsentscheidungen erneut zu überprüfen und gegebenenfalls auch ändern.

 

Dem lag folgender Sachverhalt zu Grunde:

 

Die Zollbehörde hat Ausfuhrerstattungen, die an einen Geflügelhändler gezahlt worden waren, aufgrund einer Überprüfung und Neutarifierung zurückverlangt. Die Rückzahlung in Höhe von rund 900.000 Gulden war auch erfolgt, nachdem Widerspruch und Anfechtungsklage der Handelsfirma (im Folgenden "Klägerin") erfolglos gewesen waren. In dem entsprechenden Urteil letzter Instanz hatte es das zuständige niederländische Gericht nicht für notwendig gehalten, die Auslegungsfrage hinsichtlich des richtigen Zolltarifs dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen.

 

In einem späteren Verfahren zwischen anderen Beteiligten hatte der Europäische Gerichtshof aufgrund eines Vorlagebeschlusses jedoch anders entschieden, als es das niederländische Gericht in dem Verfahren der Klägerin getan hatte.

 

Sofort nach bekannt werden dieses Urteils des Gerichtshofs beantragte die Klägerin die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Zahlung der Erstattungen, deren Rückzahlung der Zoll nach ihrer Meinung zu Unrecht verlangt hatte.

 

Der Zoll lehnte diesen Antrag ab und die Klägerin erhob Klage.

 

Sowohl nach niederländischem Recht als auch nach deutschem Recht sind Verwaltungsbehörden grundsätzlich berechtigt, aber nicht verpflichtet, als rechtswidrig erkannte Verwaltungsakte, die rechtskräftig geworden sind, wieder aufzuheben. In den meisten Fällen wird die Aufhebung rechtskräftiger, rechtswidriger Verwaltungsakte jedoch mit der Begründung versagt, dadurch werde die Rechtssicherheit beeinträchtigt, was nicht hinnehmbar sei.

 

Im vorliegenden Fall hatte jedoch das niederländische Gericht dem Europäischen Gericht die Frage vorgelegt, ob nach dem in Art. 10 EG - Vertrag verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit die Verwaltungsbehörde verpflichtet sei, ihre Entscheidung zu überprüfen, um der mittlerweile vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmung des Gemeinschaftsrechts Rechnung zu tragen.

 

Diese Frage hat der Europäische Gerichtshof bejaht. Danach sind die Verwaltungsbehörden verpflichtet, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen wenn folgende Bedingungen vorliegen:

  • die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese Entscheidung zurückzunehmen,
  • die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist,
  • das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofes zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Art. 234 Abs. 3 EG erfüllt war,
  • der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichtshofs erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt hat.

Hieraus sind für Deutschland folgende Schlüsse zu ziehen:

 

Sollte ein Prozess aufgrund fehlerhafter Auslegung des Europäischen Rechts durch das deutsche Gericht verloren gegangen sein, der Europäische Gerichtshof jedoch aufgrund eines späteren Prozesses zu einer anderen Auslegung des europäischen Rechts kommen, hat der unterlegende Kläger die Möglichkeit, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen. Bisher galt in Deutschland die Änderung der Rechtsprechung oder die erstmalige abweichende Auslegung des Rechts durch ein höchstes Gericht nicht als zwingender Wiederaufnahmegrund. Dies hat sich nun zumindest hinsichtlich des Europarechts durch dieses Urteil geändert.

 

Für den europäischen Bürger ergibt sich hieraus Folgendes:

 

Steht bei belastenden Verwaltungsakten die Auslegung europäischen Rechts auf dem Spiel, so sollte jedes Rechtsmittel bis zur höchsten Instanz ausgeschöpft werden. Unterliegt der Bürger dann aufgrund einer fehlerhaften Auslegung des europäischen Rechts durch das höchste deutsche Gericht, so ist damit nicht das letzt Wort gesprochen, falls in einem späteren Parallelverfahren der Europäische Gerichtshof zu einer anderen, für den Kläger günstigen Auslegung des europäischen Rechts kommt. Dann muss allerdings der bisher unterlegene Kläger die sofortige Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen.

 

Dies wird sicherlich in vielen Streitigkeiten über Ausfuhrerstattungen und Prämien relevant werden. Aber auch bei Milchquotenprozessen könnte sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs etwas Positives für die Landwirte ergeben, beispielsweise für Pächter die aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs zur Milcherzeugereigenschaft die Rückübertragung der ihnen zu Unrecht entzogenen Milch-Referenzmenge beantragt haben.

 

 

Münster, 05.01.2004

Mechtild Düsing, Rechtsanwältin und Notarin